Golte, Winfried: Das südchilenische Seengebiet : Besiedlung und wirtschaftliche Erschließung seit dem 18. Jahrhundert. - Bonn, 1973. - , . In: Bonner Geographische Abhandlungen, 47.
Online-Ausgabe in bonndoc: https://hdl.handle.net/20.500.11811/9579
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note = {Besiedlung und Erschließung des südchilenischen Seengebietes, die, so wie sie hier beschrieben wurden, wenig mehr als 200 Jahre alt sind, können als Musterbeispiel für die kulturgeographische Entwicklung eines peripheren Raumes gelten. Sie lassen bestimmte Etappen erkennen, auf deren Herausarbeitung in vorliegender Arbeit das Hauptgewicht gelegt wurde. Diese Etappen zeichnen sich umso deutlicher ab, als die Erschließung unter außerordentlich schwierigen Ausgangsbedingungen erfolgte, und es zu ihrer Ingangsetzung darum immer wieder besonderer äußerer Anstöße bzw. Konstellationen bedurfte.
Zu den erschwerenden Voraussetzungen sind insbesondere die regennasse, üppig bewaldete Landesnatur und lange Zeit auch der sehr kriegerische Charakter der eingeborenen Indianerbevölkerung zu rechnen. Aus diesen Gründen fand auch in der frühen Kolonialzeit, als im Gefolge der Eroberung das südliche Chile durch Edelmetallförderung vorübergehend in den Interessenbereich der Europäer geriet, nur eine oberflächliche Durchdringung des Seengebietes statt. Es dauerte 150 Jahre, bis um die Mitte des 18. Jh. unter verändertem Vorzeichen die Siedlungs- und Erschließungsbemühungen der Spanier wiederaufgenommen wurden. Das Mutterland Spanien sah sich in jener Zeit unter der wachsenden Konkurrenz anderer europäischer Mächte zu einer aktiveren Kolonialpolitik genötigt, während anderseits im Seengebiet selbst die strategische Position der bis dahin völlig von außen unterhaltenen Festung Valdivia die Eröffnung eines eigenen Hinterlandes notwendig machte. Es waren bezeichnenderweise Jesuitenmissionare, die unweit von Valdivia bis zu ihrer Vertreibung 1767 als erste Europäer „das Eis brachen" und auf ihren Hacienden größere Flächen rodeten. In der anschließenden Phase der Landnahme, in der die Neugründung der Stadt Osorno im zentralen Teil der Längssenke eine entscheidende Station bildete, ging der größte Teil der für die Landwirtschaft geeigneten Ländereien der Längssenke in die Hände der Spanier bzw. Chilenen über.
Die der Erlangung der Unabhängigkeit in der ersten Hälfte des 19. Jh. folgende Phase zeigt besonders eindringlich, daß die seit Berninger gestellte Frage nach dem Verhältnis von Wald und offenem Land für die kulturgeographische Fragestellung nur bedingt repräsentativ sein kann. So bewirkte die Unabhängigkeit Chiles für das Seengebiet zwar zunächst ein Erlahmen des von außen kommenden kolonisatorischen Impulses und ein Nachlassen der Rodungstätigkeit, gleichzeitig aber konnten, ohne Rücksicht auf tatsächliche Inwertsetzung des Landes die Verdrängung bzw. Akkulturation der indianischen Bevölkerung und die spontane Landnahme der Chilenen ein immer größeres Ausmaß annehmen.
In jener Zeit entwickelten sich aufgrund der großen Entfernung vom zentralen Siedlungsraum Mittelchile, von dem das Seengebiet zudem durch unabhängiges Indianerterritorium (Frontera) getrennt blieb, der spärlichen Bevölkerung und der mangelnden verkehrsmäßigen Erschließung extensive Wirtschaftsformen, die sich — nur unwesentlich modifiziert — bis in das 20. Jh. erhalten konnten:
1. eine auf großen Flädien betriebene Waldviehwirtschaft, bei der die Rinder den ganzen Winter über im Walde zubrachten. Wichtigste Grundlage dafür war ein im Unterwuchs reichlich vorkommendes Bambusgewädis (Quila).
2. Auf den gerodeten Flädien spielte der W e i z e n a n b a u die wichtigste Rolle. Da das Land nicht gedüngt wurde, mußte es nach einer Weizenernte zunächst einige Jahre als Weide dienen. Hier liegen die Ursprünge der südchilenischen Feldgraswirtschaft.
Den ersten entscheidenden Anstoß für die neuzeitliche Erschließung brachte dann die um 1850 von der chilenischen Regierung eingeleitete Ansiedlung deutscher Kolonisten, wie sie auch für andere periphere Räume namentlich des außer tropischen Südamerika charakteristisch ist. Im Verlauf der damit beginnenden Rodungskolonisation lassen sich zwei deutlich voneinander geschiedene Phasenerkennen.
Die erste Phase, deren Abschluß durch den Bau der chilenischen Nord-Süd-Bahn bis Puerto Montt (1912) markiert wird, steht noch im Zeichen weitgehender Isolierung vom übrigen Staatsgebiet Chiles (Fortbestehen der Frontera bis 1883) und führte zur Entstehung eines in hohem Maße eigenständigen Wirtschaftsraumes, innerhalb dessen die Einwanderergruppe auch in kultureller und sozialer Hinsicht eine „geschlossene Gesellschaft" bilden konnte. Die hohe, im wesentlichen vom gewerblich-industriellen Sektor getragene wirtschaftliche Blüte dieser Zeit — von der auch wichtige Impulse auf die Siedlungsentwichlung ausgingen — wurde durch eine Konstellation ungewöhnlich günstiger Voraussetzimgen (Rohstoffreichtum, billige Arbeitskräfte, Flußtransport, Absatz nach Europa und in die Salpetergebiete) ermöglicht. Dadurch wurden zwar auch der Landwirtschaft neue Absatzmöglichkeiten geschaffen, aber durch deren begrenzten Umfang und die sehr unzureichende Verkehrserschließung des Seengebietes im Inneren und nach außen blieb der extensive Charakter der Landnutzung weitgehend erhalten. Die Rodung („ältere Rodungsphase") hielt sich in engen Grenzen, und Waldweide blieb die wichtigste Grundlage der Rinderhaltung.
Der Anschluß an die Eisenbahn bildet für das Seengebiet ein einschneidendes Ereignis. Der vorher begrenzte Absatz der Produkte in die Zentralzone erhielt gewaltigen Auftrieb. Das wirtschaftliche Schwergewicht verlagerte sich vom gewerblich-industriellen Sektor auf Landwirtschaft und Holzausbeutung. Unterdem Gesichtspunkt der Agrarkolonisation habe ich diesen Abschnitt, der ungefähr bis zur Mitte des Jahrhunderts anhielt, zur Unterscheidung von der Zeit vor dem Anschluß an die Nord-Süd-Bahn als „jüngere Rodungsphase" bezeichnet. Sie hatte erheblich größeren Umfang als die vorhergegangene und ist inzwischen bis an die natürlichen Grenzen des acherfähigen Landes — undd z. T. darüber hinaus — am Fuße von Küstenbergland und Hochkordillere vorgestoßen.
In der Rodungswirtschaft waren vielerorts Holzausbeutung und Urbarmachung miteinander kombiniert, da nunmehr Holz in großen Mengen in die Zentralzone und den Norden des Landes geschafft werden konnte. Die zahllosen, auf den Fundos installierten kleinen Sägebänke machten die Längssenke zum wichtigsten Gebiet der Holzproduktion.
Die Haupteinnahmequelle der meisten Fundos aber bildete der Weizen. Trotz der von je im Seengebiet mit dem Weizenanbau verbundenen klimatisch bedingten Risiken galt dieser — und nicht die vom Klima eher begünstigte Viehwirtschaft — innerhalb der herrschenden Feldgraswirtschaft als Gradmesser für die Intensität der Landnutzung. Daß dies möglich war, ist sowohl Ausdruck der Rodungswirtschaft, als auch des Transportkostenproblems, welches sich aus der großen Entfernung von den Absatzgebieten in der Zentralzone ergibt.
Indem das Land durch den Bahnanschluß eine erhebliche Wertsteigerung erfuhr, und durch die Rodung viele Ländereien nun erstmals zugänglich bzw. übersichtlich wurden, trat um 1930 auch die Entwicklung der Besitzverhältnisse in eine entscheidende Phase. Die zahllosen Besitzstreitigkeiten, die sich aus dem Charakter der Landnahme im Seengebiet ergaben, wurden um 1930 durch das Gesetz über die „Propiedad Austral" beendet, das sämtliche Landbesitzer zum Nachweis der Rechtmäßigkeit ihrer Besitzansprüche gegenüber dem Fiskus zwang. Noch einmal konnte der Staat mit dem ihm zufolge dieses Gesetzes zu gefallenen Land Siedlungskolonien (Fiskalkolonien) errichten. Diese allerdings liegen überwiegend im ackerungünstigen Bereich von Küstenbergland und Kordillere. Viele der in ihnen lebenden Kleinbauern sind deshalb gezwungen, ihr Auskommen weniger in der Landwirtschaft, als vielmehr in der Holzsammeltätigkeit zu suchen. Als erster Ansatz zu einer Agrarreform ist die Tätigkeit der landwirtschaftlichen Kolonisationskasse seit 1930 zu verstehen, die eine Reihe privater Großgrundbesitze aufkaufte und nach Aufteilung an landsuchende Kolonisten vergab.
Die Einrichtung der Nord-Südbahn hat auch die Siedlungsstruktur nach haltig beeinflußt, liegen doch heute fast alle wichtigen zentralen Orte an der Hauptbahnlinie.
Um die Mitte dieses Jahrhunderts setzt im Seengebiet ein entscheidender Strukturwandel ein. Dieser ist in erster Linie eine Folge des Abschlusses der Rodungskolonisation. Nach rund 200 Jahren trat nun an die Stelle der fortschreitenden äußeren Erweiterung der innere Ausbau der Kulturlandschaft. Man kann diesen Vorgang als ein Umschlagen von Quantität in Qualität bezeichnen. Die mit der Rodungskolonisation verbundenen extensiven Wirtschaftsformen weichen mehr und mehr einer intensiven Grünlandwirtschaft, was sich besonders im Rückgang des Weizenbaus und in einer außerordentlichen Steigerung der Milchproduktion manifestiert. Hinter dem Rückgang des Weizenanbaus und der mit ihm verbundenen Feldgraswirtschaft zugunsten der Ausbreitung des Dauergrünlandes steht eine immanente Gesetzmäßigkeit. Bei Annahme einer ständigen Erweiterung der urbargemachten Fläche, wie sie in Südchile tatsächlich stattgefunden hat, hätten zur Aufrechterhaltung der Rotation Anbau- und Weideflächen gleichmäßig wachsen müssen. Die Anbaufläche ist aber nicht in gleichem Maße wie die insgesamt urbargemachte Fläche gestiegen. Das Verhältnis Acker- Grünland hat sich fortschreitend zugunsten des letzteren verschoben. Wenn aber die Weideperiode pro Flächeneinheit sich ständig verlängert hat, so ergibt sich daraus, daß der südchilenische Landwirt mit Notwendigkeit zu einer intensiveren Bewirtschaftung der Weiden übergehen mußte, wollte er nicht ihre fortschreitende Verschlechterung in Kauf nehmen. Der innere Ausbau der Kulturlandschaft zeigt sich auf den Fundos besonders in Form der Unterteilung der Weideflächen (Umtriebsweide). Es ist bemerkenswert, daß ähnliche Vorgänge auch unter völlig verschiedenen klimatischen Bedingungen in der Farmwirtschaft Südwestafrikas') und der ostpatagonischen Steppe *) beobachtet werden konnten.
Die in den letzten 40 Jahren erfolgte Erweiterung des Verkehrsnetzes und die Einrichtung von insgesamt 17 modernen Milchverarbeitungswerken seit 1945, die überwiegend Dauerprodukte herstellen, haben das alte Transportproblem zwar nicht beseitigt, jedoch in starkem Maße verringert. Fast zwei Drittel der in der milchverarbeitenden Industrie Chiles abgelieferten Gesamtmenge an Milch kommen gegenwärtig aus dem Seengebiet. Auch in der Holzwirtschaft vollzieht sich ein struktureller Wandel. Im Gegensatz zur ersten Hälfte unseres Jahrhunderts wird Holz gegenwärtig von kapitalkräftigen Unternehmen im Küstenbergland und besonders der Hochkordillere produziert. Es ist aber in wenigen Jahren mit einer Erschöpfung der natürlichen Waldreserven zu rechnen, so daß in immer stärkerem Maße schnellwüchsige Nadelhölzer an ihre Stelle treten müssen. Wenn auch die gegenwärtigen Aufforstungsraten noch keineswegs dem zu erwartenden Bedarf entsprechen, so ist doch auch hier — ähnlich wie in der Landwirtschaft — ein Wandel von der bloß ausbeutenden zur im Wortsinne produzierenden Aktivität erkennbar.
Kann unter dem Gesichtspunkt der Produktivität die jüngste Entwicklung der Landwirtschaft als bedeutender Fortschritt gewertet werden, so gilt dies nicht in gleicher Weise von der Siedlungsentwicklung. Der Abschluß der Rodungskolonisation und die Mechanisierung der Landwirtschaft haben auf dem Lande zu einem wesentlich verminderten Bedarf an Arbeitskräften geführt, der umso stärker sich auswirkt, als gleichzeitig die neue Lohn- und Sozialgesetzgebung Chiles dem Großgrundbesitzer die Arbeitskräfte erheblich verteuert hat. Die seit Jahren beträchtlich gewachsenen sozialen Spannungen auf dem Lande, die u. a. Ausdruck der im Gange befindlichen Agrarreform sind, sind ein weiteres Moment, das die Neigung der Großgrundbesitzer verstärkt, mit möglichst wenigen Arbeitskräften auszukommen.
Zusätzlich gefördert durch eine hohe Kinderzahl gerade der armen Landbevölkerung hat deshalb eine beschleunigte Wanderbewegung in die Städte eingesetzt. Weder die Schaffung von Arbeitsplätzen, noch der Wohnungsbau haben mit der Zuwanderung Schritt halten können. So sind in den Städten, ganz besonders in Puerto Montt und Valdivia, nicht nur ausgedehnte Neusiedlungen einheitlicher (Holz-)Bauweise, sondern auch große Elendsviertel mit primitiven, aus Holzbrettern, Blech usw. improvisierten Wohnungen (callampas) entstanden.
Über die innerhalb des Seengebietes zu beobachtende Flucht in die Städte hinaus weist es als ganzes mit seinen drei Provinzen bereits erhebliche Bevölkerungsverluste durch Abwanderung — vorwiegend nach Santiago — auf, die im Jahrzehnt 1960—1970 etwa die Zahl von 50 000, d. h. 9% der Bevölkerung erreichten. Damit ist einmal mehr angezeigt, daß dieser Raum, der als Kolonisationsgebiet ein Jahrhundert lang hohe Wanderungsgewinne zu verzeichnen hatte, nunmehr das Stadium der Kolonisation verlassen hat.
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